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Im Gespräch

«Bis 2050 werden thermische Netze massiv ausgebaut.»

Andreas Hurni, Geschäftsführer von Thermische Netze Schweiz
Andreas Hurni, Geschäftsführer von Thermische Netze Schweiz ist überzeugt, es braucht einen Willen, die Abhängigkeit von fossilen Energien zu reduzieren. Mit dem Klimagesetz wurden die Weichen gestellt. Der Wille ist also da. Jetzt müssen Taten folgen. (Foto: zur Verfügung gestellt)

Fernwärmenetze gibt es nicht nur in Basel, sondern überall im Land. Doch es dürften noch deutlich mehr sein, findet Andreas Hurni von Thermische Netze Schweiz.

Herr Hurni, Sie leiten Thermische Netze Schweiz. Womit beschäftigt sich Ihr Verband, sprich: Was ist ein thermisches Netz und wie viele davon gibt es in der Schweiz?

Ein thermisches Netz kann ein Wärme- oder ein Kältenetz sein. Wir führen eine Liste für das Bundesamt für Energie, allerdings nur für Wärmeverbünde, die auch den Grossteil unserer Arbeit ausmachen. Auf dieser Liste stehen aktuell gut 1450 Wärmeverbünde. Wir schätzen, dass es über 2000 gibt, eine genaue Übersicht hat aber niemand. Wir haben in der Schweiz über 2100 Gemeinden. Also gibt es vermutlich fast pro Gemeinde einen Wärmeverbund.

Was steckt hinter dieser Zahl der Wärmeverbünde? Und warum hat niemand einen genauen Überblick?

Man redet von einem Wärmeverbund, sobald zwei Parzellen gemeinsam an eine Heizung angeschlossen sind. Viele solche Verbünde sind klein und in ländlichen Gemeinden. Über 800 Einträge auf unserer Liste sind mehrheitlich kleine Holzwärmeverbünde. Die sind häufig entstanden, weil eine Orts- oder Burgergemeinde ein Stück Wald besass. Oder es gab einen Holz verarbeitenden Betrieb, der mit einem Wärmeverbund sein Abfallholz verwerten und zusätzlich Wärme verkaufen konnte. Dass nicht mehr erfasst sind, liegt unter anderem an den Kantonen. Denn sie sind gemäss Bundesverfassung für die Gebäude und damit auch deren Wärmeversorgung zuständig. Diese Aufgabe nehmen sie in Sachen thermische Netze zu wenig wahr. Es gibt jedoch löbliche Ausnahmen. Als der Kanton Luzern alle Wärmeverbünde erfasst und uns die Liste zugestellt hatte, waren von über 200 Einträgen gut 100 neu für uns. Auch der Kanton Basel-Stadt ist dank des Teilrichtplans Energie gut dokumentiert.

Andreas Hurni

Geschäftsführer Thermische Netze Schweiz

Fernwärme hat oft erstens einen preislichen Vorteil. Zweitens ist sie ein Rundum-sorglos-Paket.

Bis 2050 sollen thermische Netze einen Drittel des Wärmebedarfs der Schweiz bereitstellen, sagen Sie. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Im Moment erzeugen thermische Netze in der Schweiz zwischen neun und zehn Terawattstunden Wärmeenergie pro Jahr. Bereits 2014 haben wir das sogenannte Weissbuch Fernwärme Schweiz publiziert. Darin wurde errechnet, dass man in der Schweiz bis zu 17.3 Terawattstunden Fernwärme wirtschaftlich erzeugen könnte. Diese Zahl ist zehn Jahre alt. Eine neuere Studie kommt auf ein Potenzial von 15 bis 22 Terawattstunden. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass der Wärmebedarf zurückgeht. Einerseits aufgrund des Klimawandels mit wärmeren Wintern, andererseits aufgrund von Gebäudesanierungen. So könnte der jährliche Wärmebedarf von heute 100 auf 70 bis 80 Terawattstunden zurückgehen. Im Weissbuch hielten wir sogar 55 Terawattstunden für realistisch. Je nach Annahmen kommt man so auf ein Viertel bis ein Drittel Wärmeabdeckung durch thermische Netze.

Diese Zahl gilt auch bei einer wachsenden Bevölkerung?

Das ist so. Wobei Zuwanderung ja oft mit Neubauten einhergeht, die heute sehr energieeffizient sind. Der Effekt durch Bevölkerungswachstum geht beim Wärmebedarf in der statistischen Unschärfe unter. Entscheidend sind die allgemeine Entwicklung des Wärmebedarfs und der Ausbau der thermischen Netze. Der sollte relativ schnell erfolgen, wie er zum Beispiel in Basel bis 2037 vorgesehen ist. Sonst lohnt es sich in vielen Gebieten plötzlich nicht mehr, sie zu erschliessen, weil die Leute bereits dezentrale Lösungen wie Wärmepumpen haben.

Wo werden sich bei Ihrer Vision die thermischen Netze in der Schweiz überall befinden?

Es werden sicher viele Netze hinzukommen. Viele kleinere und mittelgrosse Gemeinden fangen jetzt erst an, Fernwärmenetze überhaupt aufzubauen. Gleichzeitig werden wir Fusionen von bestehenden Netzen sehen. Ein signifikanter Teil des Ausbaus wird in kleineren Gemeinden passieren. Vermutlich wird dort aber nicht mehr Holz die Hauptrolle spielen, denn dessen Potenzial ist grösstenteils ausgeschöpft.

Viele grössere Städte wie Basel haben bereits Fernwärmenetze und bauen sie aus. Geht da in der Schweiz noch mehr?

Das ist ganz unterschiedlich. Basel hat heute das Netz mit dem grössten Wärmeabsatz. Zürich könnte aber schon bald überholen, auch, weil es dort noch sehr viel Potenzial gibt. Auch in Genf passiert viel. Die Unterschiede sind gross; viele Städte fangen erst an.

Sie haben die Wärmepumpe als Alternative angesprochen. Was spricht denn aus Sicht der Hauseigentümerinnen und -eigentümer für den Anschluss ans Fernwärmenetz oder den Wärmeverbund?

Die typischen Kundinnen und Kunden von thermischen Netzen besitzen grössere Gebäude vom Mehrfamilienhaus aufwärts. Auch öffentliche Gebäude wie Schulen gehören dazu. Häufig liegen diese im Ortskern, da die Dichte dort gross ist. Fernwärme hat dort erstens einen preislichen Vorteil. Zweitens ist sie das Rundum-sorglos-Paket. Man muss sich nicht mehr um die eigene Heizung kümmern, sondern erhält Wärme frei Haus. Im Keller steht nur noch die Wärmeübergabestation. Wenn man früher einen Heizöltank hatte, gewinnt man sogar Platz und kann sich einen Bastelraum einrichten. Trotzdem ist ein Fernwärmeanschluss nicht für alle Fälle geeignet. Quartiere mit vielen Einfamilienhäusern, in Basel beispielsweise das Bruderholz oder das Neubad sind oft zu wenig dicht. Dort sind dezentrale Lösungen besser geeignet. Die Investition, die ein Fernwärmeausbau bedeutet, lässt sich dort nicht amortisieren.

Was können Gemeinden tun, um den Ausbau von Fernwärme und Wärmeverbünden voranzutreiben?

Aufseiten der Gemeinden ist das allerwichtigste Instrument die räumliche Energieplanung. Teilweise nennt sich das Energierichtplan, teilweise kommunaler Energieplan. Dort sollten Gemeinden ausscheiden, welche Gebiete für Fernwärme geeignet sind. In diesem Zusammenhang sind auch Netto-Null-Ziele wichtig. Die räumliche Energieplanung muss netto-null-kompatibel sein. Gleichzeitig müssen Gemeinden rasch entscheiden, wie sie, sofern vorhanden, mit dem Gasnetz umgehen. Steigen sie aus dem Gas aus, wie es der Kanton Basel-Stadt macht, wo nur ein minimales strategisches Restnetz übrig bleibt? Oder brauchen sie mehr? Das muss man definieren, denn üblicherweise verläuft das Gasnetz dort, wo die Wärmebezugsdichte gross ist. Also dort, wo thermische Netze geeignet wären. Gas ist oft ein direkter Konkurrent der Fernwärme. Beide Netze parallel zu betreiben, macht keinen Sinn.

Stichwort Energierichtpläne: Wie vermeidet man den Eindruck, ein Wärmenetz werde den Menschen «von oben» aufgedrückt?

Das wäre nur bei einer sogenannten Anschlusspflicht der Fall. Die ist aber die grosse Ausnahme. Viele Kantone haben zwar in ihren Energiegesetzen die Möglichkeit für eine Anschlusspflicht geschaffen, aber die wenigsten Gemeinden nutzen das. Fernwärme und Wärmeverbünde müssen sich deshalb im Wettbewerb bewähren; heute gegen individuelle Lösungen, früher gegen Gas. Letztere verschwinden langsam, aber es sind nicht alle so weit wie Basel-Stadt. Denn das Gasnetz ist die Cashcow vieler Gemeinden. Da gibt es einen Interessenskonflikt zwischen Finanzpolitik und Klimapolitik.

Das waren die Gemeinden. Wer kann noch helfen?

Auf der einen Seite sind es die Energieversorgungsunternehmen. Diese sollten gegenüber der Bevölkerung klar kommunizieren: Was hat man für Ausbauziele, was will man erreichen? IWB ist mit seiner Informationspolitik sehr vorbildlich. Beim eigentlichen Ausbau gibt es dann Baustellen, über viele Quartiere und viele Jahre verteilt. Da gilt es zu koordinieren und die Baustellen so zu planen, dass es möglichst wenig Störungen gibt. Auf der anderen Seite gibt es natürlich uns als Verband. Wir können politisches Lobbying betreiben, unter anderem für Fördermodelle. Heute gibt es mit dem harmonisierten Fördermodell in so gut wie allen Kantonen Fördermittel. In einzelnen Kantonen gibt es auch Fördermittel für Betreiber. Wir würden zusätzlich eine Art Bürgschaftsmodell begrüssen, um mit günstigem Geld den Ausbau zu beschleunigen. Im Parlament ist man davon aber nicht so begeistert. Aber wir bleiben dran.

Braucht es heute überhaupt noch Fördergelder für Fernwärme und Wärmeverbünde?

Förderung hilft immer. Viele Menschen vergleichen ja nur die Investitionskosten. Man muss auch sagen, dass die Fördergelder aus dem Gebäudeprogramm und damit aus der CO2-Abgabe stammen, die damit zweckgebunden ausgegeben wird. Das ist eine durchaus sinnvolle Förderung. Denn auf der anderen Seite haben die fossilen Brennstoffe noch längst nicht alle externen Kosten abgedeckt, sind also weit von Kostenwahrheit entfernt.

Vision 2037: So sieht das Basler Fernwärmenetz mit seinen Hauptbestandteilen in Zukunft aus.
Vision 2037: So sieht das Basler Fernwärmenetz mit seinen Hauptbestandteilen in Zukunft aus.

Womit wir beim Thema Dekarbonisierung wären. Welche klimafreundlichen Energieträger haben thermische Netze denn zur Verfügung?

Das grösste wirtschaftlich nutzbare Potenzial läge in der Schweiz bei der Nutzung von Umweltwärme aus Seewasser. Das sind rund fünf Terawattstunden. Als Nächstes haben wir die Abwärme der Kehrichtverwertungsanlagen, die sich mancherorts noch effizienter und vollständiger nutzen liesse. Weiter gibt es industrielle Abwärme. Leider ist die Industrie oft nicht bereit, Verträge über mehr als vier oder fünf Jahre abzuschliessen. Wenn die Firma den Produktionsstandort wechselt, fällt die Wärmequelle weg. Das neue Klimagesetz von 2023 will dort mit einer Risikogarantie absichern helfen. Weitere Energiequellen sind Umweltwärme aus Flüssen und Abwasser. Auch Grundwasser kann man nutzen, sofern man es unter den Füssen oder in der Nähe hat. Das sind die Energieträger mit dem grössten Potenzial.

Gibt es weitere?

Es gibt auch die Geothermie. Doch ausser dem Wärmeverbund in Riehen haben wir in der Schweiz noch keine weiteren realisierten Beispiele. Punktuell gibt es auch Möglichkeiten mit Solarthermie. In Genf gibt es ein entsprechendes Projekt. Bei Holz haben wir das Potenzial bereits zu 80 Prozent ausgeschöpft, die Reserve ist also nicht mehr gross. Es lassen sich nicht einmal mehr alle Projekte, die heute in der Pipeline sind, umsetzen. Zumal Holz ein hochwertiger Energieträger ist, der sich auch für Prozesswärme in der Industrie nutzen liesse.

Im Kraftwerk Volta baut IWB einen sogenannten Multi-Fuel-Brenner. Ab 2026 produziert er Wärme. Erst mit Gas, dann mit Holzpellets.
Im Kraftwerk Volta baut IWB einen sogenannten Multi-Fuel-Brenner. Ab 2026 produziert er
Wärme. Erst mit Gas, dann mit Holzpellets.

Was ist mit Wärmespeichern?

Speicher spielen eine wichtige Rolle für die Betriebsoptimierung thermischer Netze. Durch ihre ausgleichende Wirkung ermöglichen sie eine raschere Dekarbonisierung der Wärmeversorgung, da für Tagesspitzen keine fossilen Energieträger mehr benötigt werden. Ob sich auch saisonale Speicher realisieren lassen, um Wärmeenergie aus dem Sommer im Winter zu nutzen, wird sich zeigen. Technisch gesehen gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine wird gerade in Bern in Form eines grossen Geospeichers getestet.

In Zukunft wird neben Heizen das Kühlen wichtiger. Ist Fernkälte für die Schweiz realistisch?

Auch bei Kältenetzen braucht es eine Anschlussdichte, damit sie sich lohnen. Im Austausch mit Expertinnen und Experten sind wir für die Schweiz auf einen Kühlbedarf von anderthalb bis drei Terawattstunden pro Jahr gekommen, das sind zehn Prozent des Potenzials von Wärmeverbünden. Vermutlich werden sich Kältenetze auf wenige städtische Bereiche beschränken. Es sollten auch natürliche Kältequellen wie Seen oder Flüsse zur Verfügung stehen. Denn mit Fernwärme Kälte zu erzeugen, ist zwar möglich, ist aber nur sinnvoll, wenn überschüssige, nicht anders nutzbare Abwärme zur Verfügung steht. Das wäre bei einer ganzjährig laufenden Kehrichtverwertungsanlage oder der Industrie der Fall.

Andreas Hurni

Geschäftsführer Thermische Netze Schweiz

Manche Länder haben anlässlich der Ölkrise Fernwärmenetze gebaut.

Das heisst, auch in Zukunft bleibt der Wärmebedarf grösser als der Kältebedarf?

Ja, deutlich – trotz Klimaerwärmung. Der Kältebedarf ist zeitlich viel kürzer als der Wärmebedarf. In einzelnen innerstädtischen Gebieten, die sich im Sommer stark aufheizen, kann das anders aussehen. Ein Beispiel gibt es in der Stadt Wien, wo man in mehreren Quartieren Kältenetze bauen will.

Da Sie das Ausland ansprechen: Wo steht die Schweiz mit ihren thermischen Netzen im europäischen Vergleich?

In der Schweiz hat die Fernwärme heute etwa zehn Prozent Anteil an der Wärmeversorgung. Damit sind wir in Europa im hinteren Mittelfeld. In Dänemark, Schweden oder Finnland sind 40 bis 65 Prozent der Gebäude an die Fernwärme angeschlossen. Diese Länder haben die Ölkrise als Anlass genommen, ihre Fernwärmenetze zu bauen. Wir in der Schweiz haben damals das Gasnetz zu bauen begonnen und so unsere Abhängigkeit vom Öl teilweise durch diejenige vom Gas ersetzt. Es gibt aber auch Länder wie Italien, wo Fernwärme nur drei bis vier Prozent des Bedarfs abdeckt. Unterschiede gibt es auch bei der Produktion von Fernwärme: In der Schweiz ist sie zu 78 Prozent CO2-frei. Wir haben nur noch 22 Prozent Anteil fossiler Energien in thermischen Netzen. In Deutschland sind es 70 Prozent, mehrheitlich Erdgas. Es gibt in Osteuropa viele Netze, die zu 100 Prozent mit Erdgas betrieben werden.

Können wir uns vom Ausland etwas abschauen?

Ja, vor allem von den skandinavischen Ländern. In Dänemark werden für Preisvergleiche schon lange Vollkosten berücksichtigt, sodass fossile Energieträger schlecht abschneiden. Thermische Netze kommen hingegen sehr gut weg. Man kennt dort Restwertentschädigungen, wenn zum Beispiel ganze Städte oder Quartiere vom Gas wegkommen. In der Schweiz gibt es solche Modelle erst punktuell, zum Beispiel in der Stadt Zürich und in Basel. Was auch wichtig ist, sind ambitionierte Klimaziele. Um bei Dänemark zu bleiben: Dort wollte man schon 2030 klimaneutral sein. Es braucht einen Willen, die Abhängigkeit von fossilen Energien zu reduzieren. Mit dem Klimagesetz haben wir vor einem Jahr die Weichen gestellt. Der Wille ist also da. Jetzt müssen Taten folgen.

Zur Person

Andreas Hurni ist Geschäftsführer von Thermische Netze Schweiz (TNS). Der diplomierte Geologe und Experte für Siedlungs-Wasserbau und Gewässerschutz ETH hat über 30 Jahre Erfahrung in Wasserwirtschafts-, Energie- und Umweltprojekten im In- und Ausland. Hurni ist stellvertretender Fachbereichsleiter Energie bei der Ryser Ingenieure AG in Bern.