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Im Gespräch

Areale: «Manchmal fehlt der Blick aufs grosse Ganze»

Porträt Nadège Vetterli.
Nadège Vetterli leitet seit 2021 das Forschungsprogramm «Gebäude und Städte» des Bundesamts für Energie BFE. Daneben ist sie Leiterin Bauphysik und Energiesimulationen bei Anex Ingenieure in Luzern. (Foto: Anex Ingenieure)

In städtischen Wohn- und Gewerbearealen gelingt vieles, das für die Energiewende wichtig ist. Und es könnte noch mehr passieren, gerade in einem bisher nicht beachteten Bereich. Ein Gespräch mit Expertin Nadège Vetterli.

Frau Vetterli, wir unterhalten uns über Areale. Da kann zu Beginn eine Definition nicht schaden. Ab wann genau reden wir bei Gebäuden von einem Areal?

Das ist immer abhängig von der Perspektive. Reden wir über ein Areal im Zusammenhang mit Energie, Mobilität oder Kreislaufwirtschaft? Allgemein gesagt, ist ein Areal ein Zusammenschluss von verschiedenen Gebäuden. Sie können unterschiedlich genutzt werden, das ist aber nicht zwingend. Nehmen wir die Mobilitätsperspektive, dann ist entscheidend, ob gewisse Dienstleistungen oder Verkaufsflächen in einer nahen Umgebung sind, sodass man zu Fuss gehen oder den öV nehmen kann. Nehmen wir die Energieperspektive: Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden die meisten Gebäude aus dem Netz zentral mit Strom versorgt. Die Photovoltaik hat das alles verändert, und auch das Areal hat eine ganz andere Dimension erhalten. Heute können Areale deshalb definiert werden als alle Gebäude innerhalb eines Zusammenschlusses zum Eigenverbrauch (ZEV), die alle Strom von der gleichen Photovoltaikanlage beziehen. Bei der Wärmeenergie ist es die gleiche Entwicklung. Nicht mehr jedes Gebäude hat eine eigene Ölheizung im Keller, sondern es gibt gemeinsam genutzte Erdsondenfelder oder Holzheizungen, die einen Verbund beliefern. Kurz: Man definiert Areale aus Energieperspektive als Zusammenschluss von Gebäuden, die vom gleichen Energieträger versorgt werden. Dabei ist es übrigens überhaupt nicht notwendig, dass alle Gebäude zum gleichen Zeitpunkt gebaut worden sind. 

Wenn man diese Energiedefinition nimmt: Wie viele Wohnareale gibt es heute überhaupt in der Schweiz?

Das lässt sich nicht so einfach beantworten, obwohl sich schon viele Forscherinnen und Forscher damit befasst haben. Denn die Frage ist, was wir zählen: alle Areale mit einer eigenen Energieerzeugung oder auch solche, die von der Fernwärme versorgt werden? Tendenziell würde ich sagen, dass es in der ersten Gruppe nicht viele gibt. Die grosse Mehrheit der Gebäude wird entweder vor Ort dezentral beheizt – fossil oder zum Glück immer häufiger erneuerbar. Und der Rest liegt im Stadtgebiet und wird direkt mit Fernwärme versorgt. Was noch bleibt, sind Areale nach der Definition, die ich vorher genannt habe: mehrere Gebäude, ein gemeinsamer Energieträger. Ich würde schätzen, das sind 10, maximal 15 Prozent der Gebäude in der Schweiz.

Nadège Vetterli

Leiterin Forschungsprogramm «Gebäude und Städte» BFE

Institutionelle Bauherrschaften haben verstanden, dass sie in die Energiewende investieren müssen.

Sie leiten das Programm «Gebäude und Städte» des Bundesamts für Energie BFE. Ein Forschungsschwerpunkt befasst sich mit Arealen. Weshalb interessiert sich der Bund dafür?

Das hat praktische, technische und wirtschaftliche Gründe. Beginnen wir mit der Wirtschaftlichkeit: Häuser mit einem hohen Energieverbrauch kann man oft nicht mit erneuerbaren Lösungen versorgen, ohne dass wirtschaftliche Hindernisse auftauchen. Man braucht mehr Erdsonden, grössere Holzheizungen. Das ist nicht immer einfach, und Lösungen fürs ganze Areal drängen sich auf, um die Kosten auf mehr als eine Partei aufzuteilen. Dann gibt es technische Gründe, wenn zum Beispiel der Platz nicht reicht, um eine Energiezentrale zu erstellen, sodass man dafür eine separate Parzelle braucht. Und zu guter Letzt gibt es praktische Herausforderungen. Um von den Synergien eines Areals zu profitieren, braucht es manchmal jemanden, der sich als Erstes bewegt. Ein Quartier, das vor 20 bis 25 Jahren mit fossilen Heizungen erstellt wurde, muss heute eine Ersatzlösung finden. Das kann einen Dominoeffekt geben.

Und welche Ziele verfolgt das Forschungsprogramm?

Aus Sicht der Nachhaltigkeit sind Lösungen für dicht bebaute Gebiete besonders relevant. Tendenziell suchen wir weniger nach Lösungen für Einfamilienhäuser. Denn Eigentümerinnen und Eigentümer von Einfamilienhäusern haben technisch und finanziell schon lange alle Karten auf dem Tisch und können aus vielen Lösungen auswählen. Bei grösseren Häusern in der Stadt hat man vielerorts oft noch keine Wahl. Es steht schlicht kein erneuerbarer Energieträger zur Verfügung. Ich sehe das in der Praxis, denn neben meinem Mandat beim Bund bin ich in konkrete Planungen involviert. Viele Gebäude in Städten landen zwischen Stuhl und Bank. Die Eigentümerinnen und Eigentümer können keine Öl- und Gasheizungen mehr bauen, und es gibt zum Beispiel kein Fernwärmenetz. Denn es braucht Jahrzehnte, bis alle Städte in der Schweiz Fernwärmenetze wie Basel haben. Deshalb müssen wir forschen, aber auch die politischen Hindernisse identifizieren.

Welche Herausforderungen gibt es denn für Eigentümerinnen und Eigentümer?

Eine Herausforderung haben Bauherrschaften, die sanieren und dabei ihre Pflicht wahrnehmen wollen. Oft sind sie komplett abhängig von den restlichen Akteuren, obwohl eigentlich alle das gleiche Interesse haben. Momentan sind wir in einer Phase, wo schon viel verboten ist – was auch richtig ist –, aber die Lösungen sind noch nicht vollumfänglich vorhanden. Ich gebe ein Beispiel: Luft-Wasser-Wärmepumpen sind in der Stadt unglaublich schwierig zu bauen. Der Grund ist der Lärmschutz, der Wärmepumpen im Vergleich zum Verkehrslärm unverhältnismässig bestraft. So entsteht ein Interessenkonflikt, den man mit etwas Weitsicht lösen könnte. Manchmal fehlt mir da der Blick aufs grosse Ganze. Es gibt natürlich auch positive Beispiele wie Basel, wo der Energierichtplan genau in solchen Gebieten Fernwärme priorisiert, die sowohl klimafreundlich ist, als auch leise arbeitet.

Sie sagen, alle hätten das gleiche Interesse. Haben Investoren wirklich die Energiewende im Blick?

Ja, das erlebe ich wirklich so. Und zwar nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine oder dem Aufkommen des Klimastreiks. Institutionelle Bauherrschaften, also die grossen Immobilienfonds und andere Investorinnen und Investoren, haben schon lange verstanden, dass sie in die Energiewende investieren müssen, und sehen es auch als ihre Pflicht. Bei Privaten ist es etwas anderes, da ist die Botschaft zum Teil noch nicht angekommen.

Sie haben das grosse Ganze erwähnt: Welche Möglichkeit bieten Areale für den Erfolg der Energiewende im Vergleich zu Einfamilienhäusern?

Bei Gebäuden wird die Energiewende über drei Pfeiler erreicht: Betriebsenergie, also Wärme- und Stromverbrauch, Mobilität und graue Energie. Wenn 90 Prozent der Gebäude in Bezug auf diese drei Bereiche nachhaltig sind, haben wir viel erreicht. Bei der Mobilität wissen wir, dass eine grössere Reduktion wohl nicht realistisch ist. Deshalb muss man elektrifizieren. In Arealen kann man Gebäude grossflächig mit Photovoltaik bedecken, die den Strom dafür herstellen. Bei der Wärme wissen wir, dass Fernwärme der Schlüssel für die Zukunft ist, weil man nicht alles mit Wärmepumpen oder Holzheizungen lösen kann. Dazu gibt es eine spannende Studie, die besagt, dass die Zahl der Häuser sehr gross ist, die keine Alternative zu Wärmenetzen haben. Das ist per Definition eine Areallösung. Die graue Energie ist das versteckte Problem. Wir haben uns in den letzten Jahren stark mit Heizungsersatz und Elektrifizierung beschäftigt und die graue Energie vernachlässigt. Jedoch werden wir nie Netto-Null-Emissionen bis 2050 erreichen, solange wir neue Häuser weiterhin primär mit Beton bauen. Die Verwendung von Holz als Baustoff verursacht deutlich weniger graue Energie und speichert zusätzlich den aus der Atmosphäre absorbierten Kohlenstoff. Areale bieten Möglichkeiten für Kreislaufwirtschaft. Man kann dort mehr vorhandene Materialien wiederverwenden und bestehende Gebäude umnutzen, statt immer Ersatzneubauten zu erstellen. Das geht in Arealen besser als bei einzelnen Gebäuden, vor allem, weil sie mehr Möglichkeiten für Nutzungsänderungen bieten.

Und was ist mit den Menschen, die in Arealen leben? Wer zieht heute in ein Areal und mit welchen Erwartungen?

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt so viele Beispiele für Areale, die gut funktionieren, und auch für solche, die weniger gut funktionieren. Gute Beispiele kommen oft von Baugenossenschaften. Von diesen Arealen haben die Menschen mehr, weil es beispielsweise Mobility-Stationen gibt, Quartierläden oder Handwerksbetriebe. Das kann beim Erfolg helfen oder auch, dass die Bedürfnisse der Menschen von Anfang an abgeholt wurden. Oft redet man zwar davon, alle Stakeholder einzubeziehen, aber die Bewohnerinnen und Bewohner kommen erst ganz zum Schluss. Es gibt ein Beispiel aus Bern, da haben die Leute früh gesagt, dass sie keine Parkplätze brauchen, und das wurde in der Planung berücksichtigt. So hat man viel Geld für Einstellhallen gespart. Das wurde in schönere Umgebungsflächen, grössere Balkone und hochwertige Materialien investiert.

Welche Rolle spielt das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer? Lässt sich dieses Verhalten beeinflussen, damit das Areal im Betrieb möglichst nachhaltig ist?

Ja und nein. Das Verhalten spielt vor allem im Zusammenhang mit Photovoltaik eine Rolle. Je höher der PV-Anteil ist, desto mehr hat man ein Interesse, dass der Strom am Tag verbraucht wird. Das ist gut beeinflussbar, und es werden immer mehr Tools dafür entwickelt. Manchmal kann die Lösung sehr kreativ sein: In einem Areal in Zürich steht mittendrin ein Brunnen. Immer wenn der Brunnen läuft, bedeutet das, dass es einen Stromüberschuss gibt. Dann wissen die Leute, dass sie alle Geräte ungeniert einschalten können. Beim Thema Wärme ist es schwieriger. Es wurde viel geforscht, um herauszufinden, was man machen kann, damit die Menschen sich an eine Raumtemperatur von 20 Grad gewöhnen. Aber es ist schwierig, das zu beeinflussen. Die mittlere Raumtemperatur liegt in der Schweiz heute bei 23 Grad, was für die Energiewende nicht dienlich ist. Wir erleben auch Reboundeffekte. Wenn ein Areal ein Topenergielabel hat, wird mehr geheizt oder geduscht. Den Leuten zu sagen: Zieh einfach den Pulli an und reduziere die Raumtemperatur, das funktioniert leider nicht.

Nadège Vetterli

Leiterin Forschungsprogramm «Gebäude und Städte» BFE

Wir haben uns stark mit Heizungsersatz und Elektrifizierung beschäftigt und die graue Energie vernachlässigt.

Apropos Label: Das Label «2000-Watt-Areal» ist vielen bekannt. Es wird in diesem Jahr abgelöst durch zwei neue Labels. Was steht hinter diesem Schritt?

Das war ein politischer Entscheid, der von den Labelorganisationen GEAK, Minergie und SNBS zusammen mit dem BFE getroffen wurde. Primäres Ziel war es, einheitliche Berechnungsgrundlagen zu schaffen. Dieser Schritt bedeutet die Abkehr von der bewährten Methodik des 2000-Watt-Areals, welche die graue Energie für die Erstellung und die Mobilität von Anfang an mitbetrachtet hatte. Beide Aspekte haben in den neuen Areallabels einen geringeren Stellenwert, worüber nicht alle Akteure glücklich waren.

Wie wichtig sind Labels überhaupt? Wird mit ihnen das Bauen und Wohnen nachhaltiger, oder geht es auch ohne?

Ich denke, sie sind wichtig. Und nicht etwa, weil ich ein Fan von Labels bin. Doch Labels machen Druck auf den Markt. Das hat Minergie erreicht: Das Label hat Druck ausgeübt, im Gebäudebereich sichtbar effizienter zu werden. Irgendwann war das Label überholt, weil sehr viele Neubauten es hatten. Dann kamen neue Minergie-Labels, die den Markt weiter gepusht haben, und zwar in der ganzen Schweiz. Hätte es das Label nicht gegeben, hätten wir auf die gesetzlichen Vorgaben gewartet. Das sind die Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich – MuKEn –, die von 2014 stammen und in ein paar Kantonen immer noch nicht in Kraft sind. Deshalb braucht es Labels.

Sie sind seit langer Zeit in der Planung beschäftigt. Welches sind aus Ihrer Erfahrung die Herausforderungen, nachhaltige und energieeffiziente Areale zu realisieren? Sind es die oft heiss diskutierten Parkplätze?

Ich würde sagen, die Mobilität ist es nicht. Sie ist eher ein Punkt, der oft vergessen wird. Die wirkliche Herausforderung ist die graue Energie. Viele Labels erfassen zwar die graue Energie, prüften bisher aber nicht die Kompatibilität mit dem Netto-Null-Ziel. Genau hier setzt das aktuelle Forschungsprojekt «Netto-Null THG-Emissionen im Gebäudebereich» an, das eine einheitliche Methodik zur Erreichung des Netto-Null-Ziels für alle Schweizer Gebäudenormen und -labels entwickelt. Es ist aber schon heute klar, dass mehr Gebäude saniert und weniger neu gebaut werden müssen, um die Klimaziele erreichen zu können.

Wo wir gerade in die Zukunft blicken: Wohin entwickeln sich die Areale in der Schweiz? Wie werden diese aussehen, wo wird es sie geben, und wer wohnt darin?

Es ist schwierig, diese Frage ohne Kristallkugel zu beantworten (lacht). Vor allem, wenn es nicht Wünsche, sondern kompetente Prognosen sein sollen. Wie gesagt, wäre die graue Energie wichtig. Wenn sie das tatsächlich wird, sollte es mehr Areale geben, in denen man aus weniger Material mehr herausholt. Aber wer die aktuelle Wachstumskurve der Baubranche anschaut, sieht klar, dass noch immer stetig mehr neu gebaut wird. Die technologische Entwicklung erlaubt mehr Energieeffizienz, aber den Trend Richtung Suffizienz gibt es nicht wirklich. Also auf den Konsum – auch von Energie – zu verzichten. Das würde das Aussehen von Arealen verändern. Auch ihre Menge ist schwierig zu prognostizieren. Erstens ist es schwer zu sagen, wie viel Fläche in der Schweiz fürs Bauen noch zur Verfügung steht. In der Stadt gibt es viel bebaute Fläche, aber auch viele individuelle Akteure. Und ich glaube auch nicht, dass die Einfamilienhäuser grossen Arealen weichen werden. Spannend dürfte die Entwicklung allemal bleiben.